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Anhand
von Gehirnscans an Waisenkindern, die aufgrund widrigster Umstände
kaum je eine emotionale Zuwendung erhalten hatten, konnte Harry Chugani
vom Childrens Hospital of Michigan in den USA dokumentieren, dass
deren emotionale Gehirnsysteme weit weniger aktiv waren als die von
Kindern, denen eine normale emotionale Zuwendung zuteil wurde. Deren
Verhalten war zu einem großen Teil emotional neutral:
sie entwickelten kaum Angst, aber auch kaum Zuneigung.
Empfindet
eine Mutter Zuneigung für ihr Kind, so werden der Klang ihrer Stimme
und ihr Blick liebevoll und sie nimmt ihr Kind in den Arm, um es zu
streicheln. Diese Signale der Liebe empfängt das Kind über
seine Sinnesorgane, welche sie an die Gemütswelt weiterleiten.
Dort eingetroffen, initiieren sie eine Welle der Liebe als Antwort,
die über die gleichen Signalwege Ausdruck findet und zur Mutter
gelangt.
In diesem
Austausch oder Training werden die Nervenverbindungen ausgebildet und
gefestigt, welche die Erfahrung und den Ausdruck von Liebe ermöglichen.
Ein Kind, dem wenig Liebe, Geborgenheit, Freude, Zärtlichkeit entgegengebracht
werden, hat es in der Regel sehr viel schwerer, diese Eigenschaften
in seinem späteren Leben zu entwickeln, als ein Kind, dessen Gemüt
mit diesen Eigenschaften des Herzens regelmäßig genährt
wird – weil die Nervenverschaltungen, die diese Eigenschaften abbilden,
nicht so intensiv über die Sinnesorgane in Auftrag
gegeben und gefestigt wurden.
Viele Neurowissenschaftler
gehen heute davon aus, dass auf diese Weise alle Fähigkeiten unseres
Gefühls, unseres Verstandes und unseres Intellekts ihre neurologische
Anregung und Festigung erfahren. Die äußere Anregung dieser
Qualitäten geschieht also über die Sinnesorgane. Deren Impulse
entscheiden mit, welche Vernetzungen im Gehirn durch intensiven Gebrauch
bestätigt und ausgebaut werden und welche durch schwache Anregung
eine eher geringe Bedeutung erhalten oder gar ganz aufgegeben werden.
Diese Erkenntnis der Neurowissenschaften ist von überaus großer
Bedeutung für die Bildung und Erziehung, denn damit ergibt sich
automatisch die Frage nach der Qualität dessen, was über die
Sinnesorgane ins Gehirn reist und an dessen Architektur mitgestaltet.
Wie wichtig diese Frage ist, wird besonders deutlich, wenn einer dieser
Sinneskanäle ausfällt, wie z.B. das Ohr.
Nehmen wir
als Beispiel die Fähigkeit des Abstraktionsvermögens: einen
abstrakten Begriff kann man nicht schmecken, nicht riechen, nicht sehen
und nicht anfassen, man kann ihn aber mit Worten vermitteln. Für
eine äußere Anregung des Abstraktionsvermögen und der
zugeordneten Verschaltungen im Gehirn ist also das Sinnesorgan Ohr verantwortlich.
Die Forschung mit hörgeschädigt geborenen Kindern konstatiert
nun (18,19): ist die Anregung über diesen Weg stark eingeschränkt,
dann ergibt sich in der Regel ein starkes Defizit im Abstraktionsvermögen
des Betroffenen.
In diesem
Zusammenhang gewinnen die Untersuchungen an Bedeutung, die nahe legen,
dass sich durch das Hören und Darbringen komplexer harmonischer
Musik die unterschiedlichsten kognitiven Leistungen verbessern (1, 20,
21), wie Gedächtnis, Lernfähigkeit, Abstraktionsvermögen,
mathematische Fähigkeiten, analytische Fähigkeiten, Logik
und Intelligenz in verschiedensten Ausprägungen.
Da Musik
die kognitiven und emotionalen Gehirnsysteme anregt, werden diese über
Musikhören auch trainiert. Deshalb entsteht für den Musikhörer
die wichtige Frage: wie anspruchsvoll ist die jeweils gehörte
Musik für die Verstandeswelt und welche Eigenschaften regt sie
in der Gemütswelt an?
Ist sie komplex strukturiert, von harmonikaler (dieser Begriff wird
im Musik-Teil des Essays näher erläutert) Logik, reich an
Variationen und spricht sie in der Gemütswelt lebensfördernde
Eigenschaften an, dann werden mit einer solchen Musik im Hörer
auch die entsprechenden Gehirnsysteme angeregt.
Insoweit als unsere Sinnesorgane unser gesamtes Erleben umfassen, werden
wir also zu einem gewissen Teil zu dem, was wir hören, tasten,
sehen, schmecken und riechen.
Hier liegt
das unschätzbare Potential, aber gleichzeitig auch die große
Gefahr von Musik für die Bildung: ihrer kognitiven und emotionalen
Qualität entsprechend nimmt sie Einfluss auf die Architektur und
Aktivität des Gehirns – vor allem, wenn sie häufig gehört
wird.
Genügend
Untersuchungen weisen darauf hin (1, 22): ist Musik strukturell primitiv,
chaotisch und emotional negativ (depressiv, aggressiv) und wird sie
oft gehört, so entwickelt sich die kognitive, emotionale und soziale
Leistung der Hörer in diese Richtung – bis hin zu einer erhöhten
Gewaltbereitschaft und Kriminalität.
Ist sie aber kognitiv vielschichtig integriert und emotional lebensfördernd,
entfaltet der Hörer zunehmend mehr Intelligenz, inneres Glück
und soziale Harmonie (5, 21). |
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